Grüner Wasserstoff mit dreifachem Vorteil für die Energiewende
von Anna. - Lesezeit: 3 Minuten
Seit über eineinhalb Jahren sammelt die Green Hydrogen Esslingen, eine Tochter des Ökoenergieversorgers Polarstern, Erfahrung mit der Erzeugung von grünem Wasserstoff im Quartier. Im Juni 2021 war die offizielle Inbetriebnahme des Elektrolyseurs mit einer elektrischen Leistung von 1 Megawatt. Angesichts der Energiekrise und des dringend erforderlichen Ausbaus erneuerbarer Energien gewinnt eine Besonderheit dieses mehrfach ausgezeichneten Wasserstoffprojekts an Bedeutung: Die vielfältige und sektorenübergreifende Nutzung von Vorteilen der grünen Wasserstofferzeugung für die Energiewende. „Die energieintensive Wasserstofferzeugung so zu gestalten, dass sie die Energiewende auf breiter Ebene beschleunigt, geht über den Ersatz von Erdgas hinaus“, sagt Florian Henle, Geschäftsführer von Polarstern.
Der Abwärmenutzung im Elektrolyseprozess kommt eine große Bedeutung zu, da sie den niedrigen Wirkungsgrad der Wasserstofferzeugung deutlich erhöht und zugleich die Energiewende in der Wärmeversorgung unterstützt. Im Falle des Pilotprojektes der Green Hydrogen Esslingen steigt der Wirkungsgrad von 60 auf 90 Prozent. Mit der Abwärme steht dem lokalen Markt einmal mehr erneuerbar erzeugte Wärme zur Verfügung.
Genauso bietet die energiewendedienliche Fahrweise des Elektrolyseurs wichtige Flexibilitäten im Energiemarkt und senkt die Energiekosten. „Um die grüne Wasserstofferzeugung mit ihrem hohen Ökostrombedarf sinnvoll in den Energiemarkt der Zukunft zu integrieren, darf es nicht nur um die erzeugte Wasserstoffmenge gehen. Entscheidend für den Ausbau erneuerbarer Energien mit ihrer meist volatilen Erzeugung ist eine energiewendedienliche Fahrweise des Elektrolyseurs. So verstärkt der hohe Energiebedarf der Elektrolyse nicht die Netzengpässe, sondern lindert sie“, betont Felix Mayer, Projektleiter der Green Hydrogen Esslingen.
Zusätzlicher Wärmevorteil durch die Abwärme der Elektrolyse.
„Nur wenn wir hier in Deutschland grünen Wasserstoff erzeugen, können wir die dabei entstehende Abwärme nutzen“, betont Felix Mayer. Mit grünen Wasserstofflieferungen aus anderen Ländern und Kontinenten bliebe dieses Potenzial für die deutsche Wärmewende ungenutzt. Dabei ergeben sich durch die Abwärmenutzung direkt Effizienzvorteile bei der Elektrolyse und damit auch Heizkostenvorteile für die an das Wärmenetz angeschlossenen Haushalte. Der Nachteil der hohen Wirkungsgradverluste bei der Elektrolyse wird zu einem direkt spürbaren Vorteil: mehr saubere Wärme.
Wenn 2030 rund 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen sollen, bedeutet das einen enormen Speicherbedarf. Im Osterpaket 2022 wurden 10 Gigawatt Elektrolyseleistung als Ziel genannt. Das Beispiel der Green Hydrogen Esslingen zeigt anschaulich die Chancen des dabei entstehenden Abwärmepotenzials für die Immobilienwirtschaft. Perspektivisch erzeugt das Pilotprojekt in Esslingen 85 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr. Mit der entstehenden Abwärme können den Berechnungen zufolge die Hälfte des Wärmebedarfs für Heizung und Warmwasser eines Gebäudes mit 167 Wohnungen, eines 14-stöckigen Bürogebäudes sowie der Hochschule Esslingen gedeckt werden.
Kostenvorteil durch energiewendedienliche Fahrweise des Elektrolyseurs.
Die Elektrolysetechnologie selbst ist älter als jeder Verbrennungsmotor, doch bisher wurde die Wasserstofferzeugung in der Praxis selten mit Fokus auf die Integration in den Ausbau der erneuerbaren Energien genutzt. Die Anwendung konzentrierte sich auf den Energiebedarf und die Versorgung industrieller Prozesse mit ihren eigenen Anforderungen.
Im künftigen Energiemarkt übernimmt Wasserstoff durch seine Speicherfähigkeit von grünem Strom eine wichtige Rolle. Schließlich wird es häufiger zu Stromüberschüssen im Stromnetz kommen, die dann sinnvoll genutzt werden müssen. Durch die Verknüpfung des Elektrolyseurs mit einem bivalenten Blockheizkraftwerk wird im Esslinger Wasserstoffprojekt Energie per Power-to-Gas-to-Power (P2G2P) stets in die benötigte Form gewandelt. Dazu reagiert der Elektrolyseur auf die Strompreise an der Energiebörse und erzeugt dann Wasserstoff, wenn viel erneuerbare Energie im Netz vorhanden ist und der Energiebedarf vergleichsweise gering. Umgekehrt kann durch das Blockheizkraftwerk eine Rückverstromung erfolgen, wenn ein Energiemangel besteht. Beides senkt den Strompreis nachhaltig und glättet statt verstärkt Netzengpässe. Das aktuelle Pilotprojekt der Green Hydrogen Esslingen bezieht bereits heute im Reallabor nur erneuerbar erzeugten Strom. Der erzeugte grüne Wasserstoff wird ins Erdgasnetz eingespeist und dekarbonisiert die daran angeschlossenen Verbraucher.
Mehr Wasserstoff braucht mehr Praxisnähe.
Laufende Forschungsprojekte wie das der Green Hydrogen zeigen auch Herausforderungen, die für die Wasserstoffpraxis wichtig sind. So fehlt es bislang an Fachkräften, um das Hochlaufen der Wasserstofferzeugung in die Breite zu bringen. Im Betrieb ergeben sich bei Wartung und Reparatur lange Verzögerungen. Und ein Ersatzteilmarkt ist quasi nicht vorhanden, da fast alle Teile eine Spezialanfertigung sind. Eine verstärkte Ausbildung und die Einführung von DIN-Normen würden die Praxis der Wasserstoffproduktion erleichtern. Auch Störungen könnten so schneller behoben werden.
Aktuell beeinträchtigen beim Wasserstoffausbau zudem Rohstoff- und Lieferengpässe Umsetzung und Inbetriebnahme. Hinzu kommen Investitionsunsicherheit und fehlende Förderungen, um die noch recht teuren Wasserstoffprojekte anzustoßen. Bremsend wirken auch die aufwändigen Genehmigungsverfahren. In Deutschland sind derzeit mehr als 60 Wasserstoff-Projekte in Betrieb, in denen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Mehr als 80 weitere sind in Planung oder befinden sich bereits im Bau, so eine Auswertung der Agentur für Erneuerbare Energien e.V. Bis wirklich grüner Wasserstoff produziert und im Markt genutzt wird, ist es ein langer Weg.
Hintergrund: Das Esslinger Quartier mit der Energiezentrale und dem Elektrolyseur wurden im Mai 2022 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ausgezeichnet mit dem „Innovationspreis Reallabore: Testräume für Innovation und Regulierung“. Ziel des Wettbewerbs ist es, Reallabore sichtbar zu machen, innovative Ideen zu würdigen und zu neuen Reallaboren zu ermuntern. Während der Preisverleihung wählten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem Live-Voting das Klimaquartier – Neue Weststadt Esslingen als Siegerprojekt in der Sonderkategorie Nachhaltigkeit.