Klimawandel: 4 wichtige Klima-Kipppunkte für Europa und die Welt.
von Michael. - Lesezeit: 7 Minuten
Die Rekorde in Sachen Klimawandel häufen sich. Weltweit wurden 2023 unzählige neue Klimarekorde aufgestellt. Es gab extreme Hitzewellen, Stürme und schwere Überflutungen durch Starkregen. 2024 geht es bisher so weiter. Selbst in den Ozeanen spielen sich maritime Hitzewellen ab. Die Klimakrise nimmt Fahrt auf – mit ernsthaften Folgen.
Was sind Kipppunkte?
Einfach erklärt sind Kipppunkte kritische Schwellen im globalen Klimasystem, die einmal erreicht, zu starken Veränderungen führen. Sie lassen sich nicht mehr umkehren und lösen zugleich weitere Klima-Kettenreaktionen aus. Sprich auch dann, wenn die Menschen plötzlich klimaneutral leben würden, kann die Veränderung nicht direkt aufgehalten werden, weil das System sehr träge ist. Das macht vorbeugende Maßnahmen so wichtig.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung spricht von den in der nachstehenden Grafik genannten Kippelementen. Nicht alle sind Kern-Kippelemente, manche haben „nur“ regionale und keine globalen Auswirkungen wie sie Klimaforscher:innen bei der Atlantischen Umwälzströmung sehen.
Klima-Kipppunkt 1: Das Schmelzen der Eisflächen an Grönlands Eisschild und in der Antarktis.
Die Arktis und die Antarktis verlieren große Flächen an Eis. Inzwischen ist der Verlust der Eisschilde in Grönland und der Antarktis so stark, dass der Kampf laut einigen Wissenschaftler:innen schon verloren scheint. In beiden Regionen hat sich der Eisverlust in den letzten Jahrzehnten beschleunigt. Auf Grönland und in der Westantarktis könnte ein Teil der Schmelze sogar schon unumkehrbar sein, meinen Fachleute.
Zwischen 1992 und 2020 haben die Eisschilde Grönlands und der Antarktis laut einer Studie 7,56 Billionen Tonnen Eis verloren. Der jährliche Eisverlust liegt inzwischen bei rund 372 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr – Tendenz stark steigend. Der Eisverlust beider Regionen sei heute für gut ein Viertel des Meeresspiegelanstiegs verantwortlich – fünfmal so viel wie im Jahr 1992, berichten Forscher:innen in einer Studie aus 2023. Dass ein steigender Meeresspiegel ein Problem ist, gerade auch für Entwicklungsländer mit Meeresküsten wie Bangladesch, ist bekannt.
Der Süßwassereintrag durch das viele Schmelzwasser in die Ozeane führt im Nordatlantik außerdem zu einem nächsten Problem, der Abschwächung der Atlantischen Meereszirkulation bei Grönland. Dieses Meeres-Förderband bestimmt mit, wer ein mildes, wer ein raues Klima auf der Erde abbekommt.
- Grönlands Eisschild: Kippen wird wahrscheinlich im Bereich von 1,5 – 2,0 Grad globaler Erwärmung.
- Westantarktischer Eisschild: Kippen wird wahrscheinlich im Bereich von 1,5 – 2,0 Grad globaler Erwärmung.
Quelle: PIK, 2024
Klima-Kipppunkt 2: Die Atlantische Umwälzströmung (AMOC).
Was sich wie ein Monstrum liest, ist auch in der Realität eins. Die Atlantische Umwälzzirkulation, im Englischen Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), verschiebt Wassermassen über Tausende Kilometer zwischen Süd- und Nordhalbkugel. Warmes Wasser wird nach Norden, kaltes Wasser nach Süden transportiert. Der Golfstrom ist ein Teil dieser großen Atlantischen Umwälzpumpe. Die Zirkulation funktioniert so:
In der AMOC strömt an der Atlantik-Oberfläche warmes, salzhaltigeres Wasser nach Norden, das kurz vor Grönland abkühlt und aufgrund der höheren Dichte von kaltem Wasser und höherem Salzgehalt absinkt. In rund 2000 bis 3000 Metern Tiefe bewegt sich dann das abgekühlte, schwere Wasser südwärts bis fast ans Ende der Südhalbkugel. Motor der ganzen Umwälzströmung sind also Dichteunterschiede im Atlantik. Für unser Klima in vielen Teilen Europas ist die Atlantische Umwälzzirkulation von höchster Bedeutung.
Seit einigen Jahren bzw. Jahrzehnten beobachten Wissenschaftler:innen aber im Nordatlantik etwas Beunruhigendes: Westlich der Britischen Inseln hat sich eine „Kälteblase“ gebildet. Damit ist die Meeresregion weltweit fast die einzige, in der die Meeresoberflächentemperatur klar gesunken ist (siehe Grafik unten). Für Wissenschaftler:innen wie den Potsdamer Klimatologen Stefan Rahmstorf ist das ein Indiz dafür, dass die Atlantische Umwälzströmung ins Stocken geraten ist bzw. sich abschwächt und sich so einem Kipppunkt nähert. Sollte dieser Kipppunkt erreicht werden, würden keine warmen Wassermassen mehr nach Nordwesteuropa transportiert werden. Die Folge wäre eine extreme Abkühlung der Temperaturen in Großbritannien und Nordeuropa. In Afrika und Asien könnte sich laut Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung der Monsun abschwächen. Daneben gäbe es noch eine Reihe weiterer weltweiter Klimafolgen, sollte die Atlantische Umwälzströmung ganz kippen, so das PIK.
Grafik: Ruijian Gou aus dem Artikel “Was ist los mit der Atlantikzirkulation?” von Prof. Stefan Rahmstorf.
Grundsätzlich ist sich die Wissenschaft sicher, dass die Atlantische Umwälzströmung einen solchen Kipppunkt hat. Das hat sich in der Erdgeschichte bereits gezeigt. Die Frage ist, wie weit sind wir von einem solchen Punkt aktuell entfernt? Kippt das System im Atlantik noch in diesem Jahrhundert oder erst danach? Und bei welcher Temperaturerwärmung genau ist es soweit? „Dieser Mechanismus ist physikalisch gut verstanden, das ist sehr robust“, sagt Rahmstorf in einem Podcast über das Meeresströmungssystem im Atlantik.
Im Falle der Atlantischen Umwälzströmung müsse man eigentlich das klassische Vorsorgeprinzip anwenden, sagt der Klimawissenschaftler Rahmstorf. Denn auch, wenn sich die Wissenschaft gerade bemüht, bald eine Art Frühwarnsystem einzuführen, um große Veränderungen im Nordatlantik möglichst früh zu erkennen, ist es dann sehr wahrscheinlich schon zu spät. Im Prinzip ist es wie bei Corona: Wenn die Infektionszahlen in einer Pandemie schon stark steigen, lässt sich das Unheil eigentlich kaum mehr verhindern. Daher ist Prävention und Vorsorge wichtig – bei einer Pandemie genauso wie bei der Atlantischen Umwälzzirkulation.
- Atlantische Umwälzströmung: Kippen bzw. Versiegen wird wahrscheinlich im Bereich von 3,7 – 6,0 Grad globaler Erwärmung.
Klima-Kipppunkt 3: Die Veränderung großer Ökosysteme wie den Regenwäldern.
Auch bei anderen Kipppunkten muss man kein Wissenschaftler sein, um sie wahrzunehmen. Nachrichten reichen. Laut dem Wissenschaftsmagazin Nature wurden seit 1970 rund 17 % der Regenwälder zerstört. Besonders der Amazonas-Regenwald hat eine wichtige Funktion als Kohlenstoffspeicher für die Welt. Abholzung, Waldbrände und Klimawandel setzen dem größten Regenwald der Erde stark zu. Ein Großteil der Niederschläge im Amazonasbecken stammt aus über dem Wald verdunstetem Wasser. Ein Rückgang der Niederschläge und die weitere Abholzung des Regenwalds im Amazonasbecken könnten den Wald an eine kritische Kipp-Grenze bringen.
Wenn der Amazonas-Regenwald seiner Funktion als CO₂-Speicher nicht mehr gerecht werden kann, wird eine Spirale an Ereignissen in Gang gesetzt. Das kann passieren, wenn wir unsere Erde auf über 2 Grad Celsius erwärmen. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sagt, das Kippelement Regenwald könnte schon in den nächsten 100 Jahren kippen. Viel schneller ginge es, wenn wir den Regenwald zusätzlich weiterhin stark abholzen – wie in den Jahren unter dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, als die Abholzungsraten stark zunahmen. Dann kann der Vorgang laut PIK deutlich weniger als 100 Jahre dauern.
„Eine Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes in einen an die Trockenheit angepassten saisonalen Wald oder eine Graslandschaft hätte grundlegende Auswirkungen auf das Erdklima, da immerhin etwa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoff-Austausches zwischen Atmosphäre und Biosphäre hier stattfindet.“ – Analyse des PIK
- Amazonas-Regenwald: Die bei etwas unklarer Studienlage bestmögliche Abschätzung eines Schwellenwertes für das Kippen liegt bei ungefähr 3,5 Grad Erderwärmung – allerdings ohne den Einfluss von Abholzungen.
Klima-Kipppunkt 4: Das Auftauen der Permafrost-Böden.
Fast ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist dauergefroren, also Permafrost, wie es heißt. Alaska, der weite Norden Kanadas, weite Teile Sibiriens – insgesamt 23 Millionen Quadratkilometer Boden tauen nie auf. Bis jetzt.
Aufgrund der Schmelze sind einige Öl- und Gasleitungen zusammengebrochen. Das ausgelaufene Öl könnte auch eine der Ursachen der vielen Waldbrände in den nördlichen Taiga-Wäldern sein. Die Krux: Die Treibhausgase, die aus den Permafrostböden entweichen, lassen sich bislang kaum schätzen. Laut Max-Planck-Institut speichern die Permafrostböden entlang des nördlichen Polarkreises mehr als eine Billion Tonnen Kohlenstoff. Wegen der Erderwärmung tauen sie mehr und mehr auf. Ob und wie viel große Mengen Treibhausgase dadurch freigesetzt werden, ist eine der wichtigen, aber noch ungelösten Fragen der Klimaforschung, schreibt die Max-Planck-Gesellschaft. Die genauen Treibhausgas-Mengen zu wissen, die im Permafrost schlummern und frei werden, ist aber essenziell, damit man die künftige Klimaerwärmung berechnen kann.
Dass sich im hohen Norden Russlands und in Nordamerika etwas grundlegend ändert, ist offensichtlich und mit bloßen Augen zu sehen. Fundamente von Gebäuden sacken seit einigen Jahren ab, weil der tauende Boden nicht mehr trägt. Noch schlimmer kam es im Mai 2020, als in der russischen Industriestadt Norilsk das Tanklager eines Heizkraftwerks einstürzte und eine Umweltkatastrophe auslöste. Mehr als 20.000 Tonnen Diesel liefen aus, Schuld daran: mit großer Wahrscheinlichkeit die Hitzewellen in Sibirien im Jahr 2020 und im Winter davor.
- Boreale Permafrostböden: Der Temperatur-Schwellenwert für ein Kippen (plötzliches Auftauen) wird laut PIK auf 1,5 Grad Celsius geschätzt, mit einer Prozessdauer von rund 200 Jahren.
Kipppunkte: Kritik und wirtschaftliche Folgen.
Die 1,5-°C-Marke gilt in der Wissenschaft als wichtiger Schwellenwert – und wurde 2023 bereits gerissen, als die globale Durchschnittstemperatur erstmals über dem brenzligen Grenzwert lag. Es ist gefühlt so, als ob dir jemand die Deadline nach vorne schiebt und sagt: „Doch schon morgen“ und das „dead“ absolut wörtlich meint. Im Sinne von tot eben. Der Klimawandel meint es ernst. Er ist ein unerbittlicher Prüfer und ein Großteil der Menschen leider unmotivierte Schüler:innen.
Kritik an unterschiedlicher Anzahl von Kippelementen.
Inwiefern sich Kipppunkte für die Kommunikation von Klimarisiken eignen, ist unter Forschenden umstritten. Schon über die Anzahl der Kipppunkte im Erdsystem ist die Wissenschaft uneins. Eine Analyse des Global Tipping Points Reports benennt 25 Kipppunkte im Erdsystem, das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) schreibt hingegen von 16 solcher Kipppunkte. Auch ein wichtiger Unterschied: Bei manchen Elementen hat das Kippen „nur“ regionale Konsequenzen, bei anderen sind sie global. Die Helmholtz Klima Initiative nennt auf ihren Seiten 14 Kipppunkte. Diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassungen können auch als Kritik der Kipppunkte-Forschung gesehen werden. Zudem ist in manchen Bereichen die Daten- und Studienlage noch sehr dürftig, weil das Forschungsgebiet noch relativ jung ist.
Die Folgen, wenn alles kippt: Eisverlust schon unumkehrbar, wirtschaftliche Schäden.
Dennoch sollten uns die Kipppunkte interessieren, sind sie erst einmal überschritten, können wir das Auto bei voller Fahrt nicht mehr bremsen. In Teilen sind Kippelemente wie der Eisverlust in Grönland schon unumkehrbar. Genauso wie das Schmelzen vieler Gletscher, auch wenn die keine Kippelemente per Definition sind.
Viele Forscher:innen sind sich einig, dass der Klimawandel ab einer Erwärmung von 1,5 Grad erst so richtig loslegt. Alles davor ist quasi nur das Vorspiel. Deshalb ist die Grenze auch so wichtig. Doch aktuell steuert die Welt eher auf eine Erwärmung von 2 Grad Celsius zu. Für das Artensterben und unsere Ökosysteme sind das düstere Aussichten. Aber nicht nur dafür.
Wohlstands- und Einkommensverluste durch Klimawandel.
Eine Studie aus 2024 vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagt, dass der Weltwirtschaft durch die Folgen der Erderwärmung bis Mitte des Jahrhunderts Einkommensverluste von rund einem Fünftel drohen - und das sogar, wenn der Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase künftig deutlich gesenkt würde. Andernfalls seien noch deutlich größere wirtschaftliche Schäden als jene 38 Billionen Dollar pro Jahr zu erwarten.
Die Studie sagt auch klar, dass sich Klimaschutz wirtschaftlich lohnt. Denn die Schäden der Klimakrise würden sechsmal höher ausfallen als die Kosten für Klimaschutzmaßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad, schreiben die Autor:innen des PIK.
Unser Ziel: Umkehren statt umkippen.
Ganz gleich, wie viele Kipppunkte es sind und wie nah ihr Kippen bevorsteht, wir können die Folgen begrenzen. Wenn wir handeln. Und dazu haben wir eine Menge Möglichkeiten:
1. Politiker:innen wählen, die den Klimaschutz zur Chefsache machen. Denn, ob es mit dem Planeten gerade auf- oder abgeht, ist auch immer eine Folge von politischen Entscheidungen.
2. Wir brauchen eine Wirtschaft, die den Menschen und der Umwelt hilft. Eine, in der ausbeuterisches Benehmen nicht belohnt wird, auch nicht von uns als Konsumenten. Da sind wir genauso in der Pflicht. Es gibt immer mehr Unternehmen, die sich einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft verschreiben. Du findest sie zum Beispiel auf unserer Social-Business-Landkarte.
3. Wir dürfen uns als Privatmenschen nicht aus der Verantwortung ziehen. Wir müssen hinterfragen, wie Güter gefertigt werden und uns selbst fragen, was wir wirklich brauchen.
4. Wir dürfen uns als Gleichgesinnte für eine bessere Zukunft im Internet nicht gegenseitig fertigmachen, wenn beim Klimaschutz unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden. Der eine kennt sich mit Ernährung aus, ein anderer mit Mobilität. Man kann nicht alles auf einmal umsetzen, aber schrittweise immer mehr. Gemeinsam können wir uns ergänzen und voneinander lernen. Schuldgefühle sind jedoch ein schlechter Motivator.
5. Der Wechsel zu Ökoenergie ist und bleibt der einfachste Weg das Klima auf die Schnelle zu schützen. Klar, dass wir das als Energieversorger sagen, aber es stimmt. So ein Wechsel ist in wenigen Minuten erledigt, kann jedoch den eigenen CO2-Fußabdruck im besten Fall um ein Fünftel reduzieren. Im nächsten Link erfährst du die direkte Wirkung deiner Bestellung. Sie ist stark.
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